Im Verlauf unserer Recherchen zu den Verhandlungen zum Einigungs- sowie Zwei-plus-vier-Vertrag habe ich im Herbst letzten Jahres ein hochinteressantes Gespräch mit Günther Krause, dem Chef-Unterhändler der DDR bei den im Jahr 1990 geführten Verhandlungen, geführt. Er hat mich in dem bestätigt, was ich schon lange vermutet habe, aber nicht beweisen konnte. Man wird mit dem Mythos der selbstbestimmten Wiedervereinigung, die allein die Angele-genheit der Deutschen gewesen sei, wobei auch gern der unvollendet gebliebene Versuch der Herstellung der Einheit Deutschlands in der Frankfurter Paulskirche bemüht wird, wohl aufräumen müssen.
Bei allen Dokumentationen über das Zustandekommen der genannten Verträge gewinnt man stets den Eindruck, als hätten auf der einen Seite die bundesdeutsche, auf der anderen Seite die Delegationen der UdSSR und der DDR gehandelt. Hiernach hätten die Letztgenannten Vorbedingungen gestellt, auf welche sich die bundesdeutsche Delegation habe einlassen müs-sen, um nicht die Wiedervereinigung zu gefährden. Da nach der Präambel alter Fassung das Wiedervereinigungsgebot höchsten Rang hatte, sei die Hinnahme dieser Vorbedingungen ver-fassungsmäßig geboten gewesen. Die Hinnahme der sowjetischen Vorbedingung war zwar unumgänglich, um die Wiedervereinigung Deutschlands zu erreichen, wobei sich die Frage nach Inhalt und rechtlichen Konsequenzen dieser Vorbedingung stellt. Wichtiger ist aber, daß auch die Westalliierten, scheinbar nur interessierte Beobachter der Verhandlungen, Bedingun-gen gestellt haben. Es hat dabei den Anschein, als hätten die Westalliierten und die Sowjetre-gierung die jeweils gestellten Vorbedingungen miteinander abgestimmt.
Ich habe Günther Krause danach befragt, ob ihm der – sogar in Fachkreisen weitestgehend unbekannte – Art. 139 GG geläufig sei. Dieser besagt, daß die zur „Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ erlassenen (deutschen) Rechtsvorschriften von den Bestimmungen „dieses Grundgesetzes“ nicht berührt sind. Aus den Protokollen des Parlamentarischen Rates ergibt sich, daß ohne diese Bestimmung die Hochkommissare der Westalliierten ihre Zustimmung zum Grundgesetz nicht erteilt hätten. Thomas Dehler, später der erste Bundesminister der Justiz in der Regierung Adenauer, hat in den Beratungen in be-zug auf diese Norm erklärt, er würde diese gern streichen, aber das gehe nicht. Krause antwor-tete, nach meinem Eindruck belustigt, selbstverständlich sei ihm diese Norm bestens bekannt, da sie in den Verhandlungen zum Einigungs- sowie Zwei-plus-vier-Vertrag von großer Bedeu-tung gewesen sei. Die Westalliierten hätten darauf bestanden, daß die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten unter Beibehaltung des Grundgesetzes auf der Grundlage des Art. 23 GG erfolgen müsse. Von westalliierter Seite wurde es von vorneherein kategorisch abge-lehnt, daß an die Stelle des Grundgesetzes eine neue Verfassung trete, die dann mit Sicherheit die Vorbehaltsklausel des Art. 139 GG nicht enthalten hätte. Ein wesentlicher Grund für die Forderung nach der Beibehaltung des Grundgesetzes war dabei dieser besagte Artikel.
Im Jahr 1990 wurde eine kurze Zeitspanne diskutiert, in welchen rechtlichen Formen die Ein-heit Deutschlands hergestellt werden sollte. Es wurde die Forderung aufgestellt, der Zusam-menschluß der beiden deutschen Staaten gebe Veranlassung zu einer neu auszuarbeitenden Verfassung. Artikel 146, nach dem das Grundgesetz seine Gültigkeit verliert „an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“, war für seine Befürworter die gegenüber Art. 23 vorrangige Bestim-mung zum Vollzug der Einheit. Der Parlamentarische Rat habe nur eine provisorische Verfas-sung für die Übergangszeit der Teilung schaffen wollen.
Dieser Weg sollte wohl zunächst auch beschritten werden. Am 11. Februar 1990 erklärte Bundeskanzler Helmut Kohl nach einer Moskaureise dem ZDF, daß man eine neue Verfas-sung zu schaffen habe, wobei man in diese Bestandteile aus den Verfassungen beider deut-scher Staaten aufnehmen wolle. Völlig überraschend hatte sich am 6. März 1990 die Bonner Regierungskoalition unter Führung der CDU darauf geeinigt, den Weg zur Einheit nach Art. 23 zu gehen. Von diesem Weg ist man nicht mehr abgewichen.
Was kann Kohl dazu bewogen haben, in einer Zeitspanne von nicht einmal vier Wochen seine Meinung so radikal zu ändern? Es liegt nicht fern, daß Kohl von den Westalliierten dazu an-gehalten worden ist, die Wiedervereinigung auf der Grundlage des GG vollziehen zu lassen. Eine neue Verfassung hätte es Deutschland ermöglicht, sich von den ihm in Potsdam auferleg-ten Fesseln zu befreiten.
Bei den Beratungen zum GG war allen Beteiligten, also den Mitgliedern des Parlamentari-schen Rates und den Hochkommissaren der Westalliierten, klar, daß die im Jahr 1946 auf An-ordnung der Besatzungsmächte von den Landtagen der westdeutschen Länder erlassenen Vorschriften unter dem Grundgesetz keinen Bestand haben konnten. Durch diese wurde näm-lich rückwirkend ein bestimmtes Verhalten während der nationalsozialistischen Herrschaft mit empfindlichen Sühnemaßnahmen sanktioniert. Kein zivilisierter Rechtsstaat darf indessen in seiner Verfassung Vorschriften für verfassungsfest erklären, die an solchen elementaren Män-geln leiden. Hätte man nun aber eine neue Verfassung ausgearbeitet, hätte diese mit Sicherheit keine solche Bestimmung enthalten, weil dies nicht vermittelbar gewesen wäre. Dann hätten viele Entnazifizierungsverfahren neu aufgerollt werden müssen. Strafgerichte hätten prüfen müssen, ob die erfaßten Personen oder Unternehmen gegen Strafnormen des Reichsstrafge-setzbuches (RStGB) verstoßen haben. Das Vermögen vieler Personen ist aber eingezogen worden, obwohl diesen ein nach dem RStGB strafbares Handeln nicht vorzuwerfen war. Dann hätten die Betroffenen rehabilitiert werden müssen, und das zu Unrecht eingezogene Vermögen hätte entweder zurückgegeben oder zumindest eine dem Verkehrswert angemesse-ne Entschädigung gezahlt werden müssen.
Damit aber nicht genug: Wenn schon deutsche Entnazifizierungsvorschriften hätten für un-wirksam erklärt werden können, so hätte man auch (allerdings nur politisch) in Frage stellen können, ob die Nürnberger Prozesse unter schweren Menschenrechtsverletzungen leiden, weil eigens für diesen Prozess rückwirkend geltendes Strafrecht gesetzt worden ist. Auch der Bundesregierung konnte nicht daran gelegen sein, alle Entnazifizierungsverfahren in den alten Bundesländern, die längst abgeschlossen waren, wiederaufzunehmen und nunmehr eine straf-rechtlich relevante Schuld der Betroffenen nach Maßgabe des RStGB zu überprüfen. An der Beibehaltung des Art. 139 mußte schließlich auch die UdSSR ein vitales Interesse haben. Denn alles, was die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz revidiert hätte, hätte die Sowjetre-gierung weder der Bevölkerung noch dem Obersten Sowjet vermitteln können. Das Gesetz, mit welchem die Zustimmung zur Wiedervereinigung Deutschlands durch die UdSSR ratifi-ziert werden mußte, hätte diesen nicht passiert. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wäre die Sow-jetregierung sogar gestürzt worden.
Auf Befragen, warum sich in keinem Dokument irgendein Hinweis zu Art. 139 findet, ant-wortete Krause, daß die meisten Akten unter Verschluß stehen. Er fügte hinzu, auf Grund der Darstellungen der Verhandlungen zum Zwei-plus-vier-Vertrag entstehe der Eindruck, als habe es sich um eine Angelegenheit zwischen den beiden deutschen Staaten und der UdSSR ge-handelt. In Wahrheit aber hätten die USA, „Gewinner des Kalten Krieges“, das Wort geführt.
Das ist gut nachvollziehbar: Das globalstrategische Ziel der USA war es, die Ostgrenze der Nato um etwa 300 Kilometer zu verschieben. Die Vereinbarungen mußten daher so gestaltet werden, daß die Regierung Gorbatschow nicht desavouiert würde. Sie durfte unter keinen Umständen vor dem Obersten Sowjet scheitern, anderenfalls drohte eine historische Chance vertan zu werden. Die Sowjetregierung mußte daher die in ihrer Zone durchgeführte Boden- und Wirtschaftsreform so darstellen, als habe hierdurch die Entnazifizierung und Entmilitari-sierung des deutschen Volkes in Übereinstimmung mit den Potsdamer Beschlüssen durchge-setzt werden sollen, wie auch in den Westzonen.
Mit ihrem Aide-Mémoire vom 28. April 1990 reagierte die Sowjetregierung in diesem Sinne, indem sie betonte, insbesondere Boden- und Wirtschaftsreform in ihrer Zone als Maßnahmen zur Entnazifizierung Deutschlands zu respektieren. Hätte die Sowjetunion stattdessen erklärt, daß Boden- und Wirtschaftsreform dazu gedient haben, eine „gerechtere“ Eigentumsordnung herzustellen, hätte die Bundesrepublik Deutschland schon im Hinblick auf Art. 1 GG diese Maßnahmen, die dann dem kommunistischen Klassenkampf gedient hätten, nicht anerkennen dürfen. Jede Art von Klassenkampf ist nämlich mit den nicht abänderbaren Artikeln 1 und 20 unvereinbar, schon deshalb, weil er die Individualität eines Menschen leugnet und diesen al-lein wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse der herrschenden Klasse unterwirft und auf diese Weise rechtlos stellt.
Wenn Boden- und Wirtschaftsreform indessen unter dem Schutz des Art. 139 standen, be-stand für die bundesdeutsche Delegation überhaupt keine Möglichkeit mehr, über diese Best-immungen zu verhandeln. Das erklärt die Aussage des damaligen parlamentarischen Staatsek-retärs Kinkel vor dem BVerfG, der ausgesagt hat, die Bundesregierung habe die gegebenen Realitäten nicht anerkannt, sondern nur zur Kenntnis genommen und erklärt, diese künftig nicht in Frage zu stellen. Wichtig, aber vom BVerfG nicht aufgegriffen, wurde seine Äuße-rung, der Einigungsvertrag habe keine neuen Regelungen insoweit enthalten, sondern die ge-gebene Rechtslage lediglich klargestellt.
Gerade diese Äußerung ist aber entscheidend. Im Hinblick auf Art. 139 mußte die Bundesre-gierung die sowjetische Vorbedingung, Respektierung der Boden- und Wirtschaftsreform als Entnazifizierungsmaßnahmen, zur Kenntnis nehmen. Die UdSSR hat sich genau so verhalten wie die Westmächte vor ihrer Zustimmung zum Grundgesetz. Ohne Art. 139 hätten diese dem Grundgesetz 1949 nicht zugestimmt. Um sich von dem Inhalt dieser oktroyierten Norm zu distanzieren und zum Ausdruck zu bringen, daß man den Willen der Besatzungsmächte ledig-lich zur Kenntnis genommen habe, hatte das damalige Mitglied des Parlamentarischen Rates, Theodor Heuss, den Vorschlag unterbreitet, man möge die Worte „zur Befreiung des deut-schen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ in Anführungszeichen setzen, was dann auch geschehen ist. In den Verhandlungen zum Einigungs- und Zwei-plus-vier-Vertrag hat sich die Geschichte letztlich konsequent fortgesetzt.
Das stellt die Betroffenen aber nicht rechtlos. Art. 139 schließt nämlich nicht aus, daß unter Beachtung der Unschuldsvermutung jeder Einzelfall überprüft werden muß, was in den alten Bundesländern für eine gewisse Zeitspanne auf gesetzlicher Grundlage möglich war. Dagegen hat sich die Sowjetregierung nicht verwahrt.
In den alten Bundesländern sahen zwischen 1951 und 1955 verabschiedete Gesetze der Län-der vor, daß als Hauptschuldige oder Belastete eingestufte Personen oder ihre Rechtsnachfol-ger berechtigt waren, die häufig auf der Grundlage widerleglicher Vermutungen erfolgten Schuldfeststellungen unter Beachtung des Prinzips der Unschuldsvermutung überprüfen zu lassen. Dies führte in vielen, teils spektakulären Fällen zur Aufhebung der Schuldsprüche.
Auch die Entnazifizierung in der SBZ muß einer solchen Überprüfung durch den gesetzlichen Richter unterliegen. Nach § 1 V des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes fallen unter dieses Gesetz auch strafrechtliche Maßnahmen deutscher Verwaltungsbehörden. Da allen Be-troffenen der Boden- und Wirtschaftsreform ein für strafwürdig erachtetes Verhalten wäh-rend der nationalsozialistischen Herrschaft vorgeworfen worden ist, liegen die Voraussetzun-gen nach dem Wortsinn vor. Der Gesetzgeber behauptet aber, es liege lediglich ein Strafszena-rio vor; in Wahrheit hätten Boden- und Wirtschaftsreform der Herstellung einer neuen Eigen-tumsordnung gedient. So wird die von der Sowjetregierung gestellte Vorbedingung aus durchsichtigen Motiven verfälscht. Die meisten Betroffenen wären zu rehabilitieren. Dies löst Restitutionsansprüche aus. Da dies nicht gewollt ist, müssen die Betroffenen mit dem Makel behaftet bleiben, während der nationalsozialistischen Herrschaft Verbrechen begangen zu ha-ben. Nur eine förmliche Rehabilitierung würde diesen Makel beseitigen. Ein solcher Hoheits-akt hätte aber zwingend die unerwünschten vermögensrechtlichen Folgen, Restitution oder Entschädigung, zur Folge. Diesen gordischen Knoten wird das BVerfG durchhauen müssen, welches mit dieser Problematik schon seit fast viereinhalb Jahren befaßt ist.
Thomas Gertner
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